Von großen und kleinen Systemen – Teil 2
Unser Das Schwarze Auge-Redakteur Johannes verrät, in welchen Rollenspieluniversen er sich am wohlsten fühlt – und erklärt dabei auch, warum das so ist!
Hier geht es zum ersten Teil des Artikels
Rollenspiel als Spiel begreifen: HeXXen 1733
Während der eindrucksvolle Regelbau von Das Schwarze Auge am besten als Fundus an Möglichkeiten funktioniert, gibt es auch Rollenspiele, deren Regelsysteme einen zwingenden und wichtigen Bestandteil ihres Reizes ausmachen. In diese Kategorie zähle ich beispielsweise Savage Worlds, TORG Eternity und HeXXen 1733.
In diesen Systemen ist die Heldenerschaffung typischerweise nicht zu kompliziert, und mit einer überschaubaren Anzahl von Entscheidungen entsteht ein fertiger Charakter. Für ein funktionierendes Spiel ist es wichtig, dass jeder Mitspieler ebenso wie die Spielleiterin stets einen guten Überblick über die eigenen Handlungsoptionen hat, und diese sind vom Regelsystem klar definiert.
In derartigen „crunchigeren“ Systemen ist der Spielraum für die Entwicklung eines Helden oft enger bemessen als beispielsweise bei Das Schwarze Auge. Auch ein HeXXen-Charakter lässt sich problemlos über viele Sitzungen hinweg spielen und steigern, aber seinem Entwicklungspotenzial sind vom Spiel selbst deutliche Grenzen auferlegt. Einerseits hat man als Spieler so direkt ein „Finalziel“ vor Augen, auf das man hinarbeitet, andererseits motiviert es auch dazu, mal das Potenzial eines neuen Charakterkonzepts auszuprobieren.
All dies führt dazu, dass sich HeXXen 1733 so anfühlt, als würde man gegen das Spiel antreten, das – vertreten durch die Spielleiterin – alles in seiner Macht stehende aufbietet, um den Sieg der Heldengruppe zu verhindern. Es erfordert Kommunikation und Koordination seitens der Spieler, die Herausforderungen zu überwinden, und jeder Sieg fühlt sich großartig an!
Während der Kreativität der Spieler auf mechanischer Ebene deutliche Grenzen auferlegt sind, gilt dies aber keinesfalls für den „Fluff“: Rollenspielszenen können auch in einem „crunchigeren“ System sehr intensiv sein. (Als Beleg sei hier Beweisstück A angeführt, die großartige Let’s Play-Kampagne Finstere Herzen. Wer liebt es nicht, in seiner Freizeit vor laufender Kamera von seinem Chef zwecks Jump-Scare angeschrien zu werden?)
HeXXen 1733 ist etwas für mich, wenn …
- … ich kooperative und kompetitive Spiele gleichermaßen mag.
- … ich Wert auf spannende, schnell ablaufende Konflikte und kurzfristig greifbare Erfolge lege.
- … ich Spaß daran habe, aus begrenzten Ressourcen und einem klar umgrenzten Rahmen von Möglichkeiten das Maximum herauszuholen.
Ein narratives Gegengewicht: Tales from the Loop
Wo manche Rollenspielsysteme Bücher mit Regeln, Fokusregeln und Regelerweiterungen füllen können, kommt so manches andere System mit wesentlich weniger Platz aus. Das minimalistischste Beispiel, das mir bekannt ist, ist das niedliche kleine Lasers & Feelings von one.seven design, dessen komplettes Regelwerk mitsamt Weltbeschreibung auf einer A4-Seite Platz findet.
Ein derart reduziertes Skelett an Mechaniken sorgt dafür, dass ein System auch für Rollenspielskeptiker und generelle Spielemuffel zugänglich wird. Meist sind dann keinerlei potenziell abschreckenden, exotischen Würfel notwendig (sechsseitige sind in der Regel in Ordnung), man muss sich nicht in irgendwelche Probenmechanismen einlesen, und um die Welt zu verstehen, genügen oft bereits Allgemeinwissen, Kenntnisse der Popkultur und gesunder Menschenverstand.
Mit ein wenig Mühe lassen sich natürlich auch komplexere Regelsysteme so umbauen, dass sie sich auch für blutige Anfänger eignen – auf diese Weise ist es mir beispielsweise gelungen, auch alles andere als rollenspielaffine Mitglieder meiner Familie für Die Schwarze Katze zu begeistern! „Echte Rollenspieler“ lassen sich durch ein derart abgespecktes System aber meist nicht auf Dauer fesseln.
Anders sieht die Sache aber aus, wenn ein Rollenspielsystem eigens entsprechend konzipiert ist und auch mechanistisch einen besonderen Akzent auf das Narrative legt (NB: ein Begriff, den ich hier nicht im Sinne der GNS-Rollenspieltheorie verwende!). Besonders gut ist das in meinen Augen bei Tales from the Loop (beziehungsweise Things from the Flood, seiner etwas älteren und dunkleren Schwester) gelungen, die auf dem Regelsystem von Mutant Year Zero beruhen (welches seinerseits viel Inspiration von Powered by the Apocalypse bezogen hat). Die Charaktere lassen sich mit einer sehr überschaubaren Zahl von Entscheidungen und Werten beschreiben, doch ihre weitere Ausgestaltung geht weit über die Heldenerschaffung hinaus. Das Probensystem ist simpel, aber flexibel, und motiviert aktiv dazu, sich in interaktivem Rollenspiel zu ergehen – beispielsweise beim Ablegen von negativen Zuständen, wofür eine Szene mit einem für dein eigenen Charakter wichtigen NSC notwendig ist. Auch ist es für die Spieler absolut nicht notwendig, sich im Vorhinein in irgendeiner Weise mit der Spielwelt auseinanderzusetzen, denn diese entsteht komplett gemeinschaftlich direkt am Spieltisch.
Selbstredend obliegt auch bei einem „narrativen“ System die Verantwortung für eine funktionsfähige Geschichte bei der Spielleitung, aber diese Rolle fühlt sich bei kaum einem anderen System so unbeschwert an. Die Spielleiterin einer guten TFTL-Runde nimmt weniger die Funktion einer Regisseurin ein, sondern ist eher eine Art Moderatorin, die den Interaktionsfluss zwischen den Spielern aufrechterhält, wichtige Fakten zur Verfügung stellt, wenn sie benötigt werden, und die Schritte der Gruppe von Zeit zu Zeit behutsam in Richtung des Mysteriums lenkt. Alles weitere ergibt sich dann ganz von selbst.
Während jedes System zweifellos das Potenzial für großartige Rollenspielerlebnisse birgt, war ich doch sehr überrascht, dass ich einige meiner intensivsten Momente mit einem derart simplen und auf den ersten Blick oberflächlichen System wie Tales from the Loop erlebte. Für mich und meine Gruppe passten der clevere, unterschwellige Horror des von Simon Stålenhags Illustrationen geprägten Universums, die leichtherzigen Regelmechaniken und die sehr realistisch gehaltenen Charaktere, die unserer eigenen Lebensrealität oftmals gar nicht so fern erschienen, einfach perfekt zusammen und ergaben einige unvergessliche Spielabende.
Dennoch sei nicht verschwiegen, dass auch Tales from the Loop die Möglichkeiten der (mechanischen) Charakterentwicklung eng begrenzt, und auch wenn es Spaß macht, einen TFTL-Charakter über mehrere Sitzungen hinweg zu spielen und ihn narrativ weiterzuentwickeln, erscheint es hier durchaus denkbar, dass er früher oder später „zu Ende gespielt ist“. Narrative Systeme werden für mich zweifellos immer wieder eine großartige Abwechslung darstellen und tolle Erinnerungen bereithalten, aber dennoch wird mein Herz immer zu den großartigen und tiefschürfenden Erlebnissen in komplex ausgearbeiteten Spielewelten zurückkehren – allem voran natürlich nach Aventurien!
Tales from the Loop ist etwas für mich, wenn …
- … ich gern intensives Rollenspiel betreiben mag, mich aber nicht groß mit Regeln aufhalten möchte.
- … ich mich gern in Tagträumen verliere, die meinen Alltag durch phantastische Erlebnissen bereichern.
- … ich erste Erfahrungen mit der Rolle der Spielleiterin sammeln möchte, bevor ich mich an komplexere Systeme wage.
Fazit
Es gibt unheimlich viele verschiedene Rollenspielsysteme. Sie alle haben ihre Vor- und Nachteile und fühlen sich ganz unterschiedlich an, bringen vielleicht ihr eigenes Setting mit oder beruhen auf einem Universalsystem, das für verschiedene Universen Anwendung findet. Dazu kommt, dass jede Gruppe eine ganz andere Art von Rollenspiel betreibt und sich das gleiche System mit verschiedenen Mitspielern plötzlich ganz anders anfühlen kann.
Mit diesen Tatsachen im Hinterkopf erscheint es eigentlich ziemlich anmaßend und wenig zielführend, wenn dir irgend so ein dahergelaufener Kerl erklären will, wie sich dieses oder jenes System am Spieltisch anfühlt. Und für das Dilemma gibt es eigentlich nur eine vernünftige Lösung:
Probiere dich aus! Du magst überrascht sein, wie gut ein zunächst unscheinbares System zu deiner Rollenspielrunde passt, wie viel Spaß und wie viele intensive Augenblicke ihr damit haben könnt. Auch wenn eure Erfahrungen für andere vielleicht nicht im wissenschaftlichen Sinne „rekonstruierbar“ sind, ist es doch die Liebe zum Rollenspiel, die uns alle verbindet. Und genau die ist es doch, die wir am liebsten mit der ganzen Welt teilen würden!
mit spielerischen Grüßen, euer Johannes Kaub.